Bei Ihrer Kirchenmusik, Herr Baltruweit, fällt eine Prägung durch die Liedermacher-Szene der 70er Jahre auf.
Reinhard Mey und Hannes Wader standen neben anderen in meiner musikalischen Biographie Pate. Ganz zu Beginn stand aber eine andere Prägung, nämlich die hervorragende Ausbildung in Heinz Hennigs Hannoveraner Knabenchor. Wenn jetzt mein älterer Sohn dort mitsingt und ich die Konzerte anhöre, fällt mir erst richtig auf, wie prägend dieses sorgfältige Lernen für meine spätere Arbeit gewesen ist. Das zeigt sich zum Beispiel in der Betonung des gesungenen Wortes, die uns schon bei den Bachischen Kompositionen beigebracht worden war.
Können Sie etwas anfangen mit dem Begriff „Neues Geistliches Lied“, oder bevorzugen Sie einen anderen Terminus?
Hinter dem Begriff steht nach meinem Dafürhalten ein theologischer Anspruch. Ich möchte das Attribut „neu“ weniger auf das Liedalter bezogen wissen, sondern auf den Anspruch, daß das Lied eine Aussage macht, die einen theologischen Sachverhalt verständlicher und damit zugänglich macht und insofern „neu“ ist. Das kann sich etwa darin zeigen, daß alte Wahrheiten wiederentdeckt und wiederbelebt werden, oder daß Gedanken überhaupt neu gefunden werden.
Das ist eine interessante, ganz eigene Deutung des Begriffs „Neues Geistliches Lied“. Das „Neue“ meint also nicht nur die klangliche Gestalt?!
Ja, sonst können Sie mit einigem Recht fragen, was an den Liedern nach wenigen Jahren jeweils noch neu sein soll. Mit der musikalischen und theologischen Sprache geschieht ja in diesen Liedern – wenn sie gelungen sind – etwas Neues. Ich finde den Anspruch gut, den dieser Begriff an die Texter und Komponisten stellt.
Dahinter steht, das merkt man jetzt schon deutlich, ein theologisches Konzept. Können Sie dazu etwas mehr sagen?
Das hat mit dem zu tun, was wir „Kontextuelle Theologie“ nennen. Unsereiner ist ja sehr von Martin Luther geprägt. Man muß sich klarmachen, was Luther gemacht hat. Luther hat seine Theologie in Lieder verpackt, und das war kontextuelle Theologie: Er setzte sich ständig mit einer konkreten Situation, nämlich mit der Lage der Kirche und Gemeinde, auseinander und suchte Antworten auf das, mit dem er nicht zurechtkam. Das Entscheidende dieser Antworten hat er dann in Lieder gebracht, die die deutsche Sprache benutzten (nicht die lateinische!). Dabei lasse ich jetzt einmal außer acht, daß seine Formulierungen von einer Qualität waren, daß sie diese Sprache auch prägten. Und: Luther hat Melodien „von der Straße“ genommen, die zeitgemäß waren, die einfach „dran“ waren. In so einer Tradition sehe ich mich eigentlich ganz gerne. Ein Gottesdienst, der die Botschaft der guten Nachricht ernstnimmt, nimmt die Menschen ernst, die etwas vom Gottesdienst erwarten.
In diesen Liedern und mit ihnen hat ökumenische Theologie eine Chance. Das entspricht Ihrem Anspruch an das theologisch „Neue“, das Sie von den Liedern erwarten. Können wir einmal versuchen, die Theologie noch etwas näher zu qualifizieren, die sich bei diesen Autoren formuliert?
Also, das wird – bei allen Schattierungen und Unterschieden – auf jeden Fall eine Verlebendigung dogmatischer Begrifflichkeiten sein, in dem Sinne, daß das Anliegen ist, wieder Fleisch auf die Knochen des kirchlichen Sprachgerüstes kommen zu lassen. Auch daß die Erfahrungen, die hinter den dogmatischen Formulierungen stecken, wieder einen Wert als nachvollziehbare Deutung von Wirklichkeit erhalten, ist ein Anliegen.Im Augenblick sind Dogmatik und kirchliche Lehre derart verkopft, ja ein Großteil der Verkündigung ist so verkopft, daß die Leute wegbleiben. Wenn es jetzt zu Liturgien und Liedern kommt, die für das Leben etwas zu singen und zu sagen haben, dann kommen auch die Leute wieder. Wir müssen die Situation wahrnehmen, ernstnehmen und unser Fragen nach der theologischen Qualifizierung unseres Lebens vor diesem Hintergrund gestalten.
Viele Menschen fragen ja durchaus nach Möglichkeiten zur Lebensdeutung. Ich sehe das daran, daß die Leute an den entscheidenden Lebenspunkten sehr wohl zur Kirche gehen, sei es Taufe, Trauung oder Weihnachten und der Trauerfall; auch der Schuljahresabschluß oder ein Gottesdienst im Freien. Diese Kasualien könnten wir bewußter gestalten. Die Menschen sind dann da, und sie freuen sich, wenn wir etwas zu sagen haben, was ihr Leben qualifiziert. Und solches Potential steckt – um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukommen – bei Leuten wie Wilhelm Willms, Friedrich Karl Barth und anderen dahinter.
Ich erlebe das auch bei meiner Arbeit im weltkirchlichen Kontext. Die Kolleginnen und Kollegen, die ich dort treffe, denken gar nicht anders als in solchen kontextuellen Bezügen. Das könnte der unausgesprochene Tenor des Neuen Geistlichen Lieds sein: der kontextuelle Zugang zum Evangelium.
Daß der Text in der Regel am Beginn der Arbeit steht, unterscheidet Ihre Arbeit – wie die vieler Komponisten aus dem Bereich des Neuen Geistlichen Lieds- vom üblichen Ablauf in der Pop-/Rockmusik. Wie aber wird eine Musik dem Text, der Aussageabsicht „angemessen“?
Das ist weniger ein formales Problem. Bei mir muß nicht um jeden Preis jede Silbe korrekt durch den Musikverlauf betont sein. Anders ist das etwa bei Rolf Schweizer, der dafür auch hervorragende Lösungen findet. Mein Hauptaugenmerk liegt woanders: Mir ist wichtig, daß es mir gelingt, die Stimmung, die Atmosphäre, die Erfahrung, die hinter dem Text sitzt, zu erfassen. Mit der Musik habe ich ganz eigene Möglichkeiten, die die Möglichkeiten der reinen Textsprache erheblich erweitern. Das ist es glaube ich: daß sich das Mehr an Erfahrung, das hinter dem Text steht, inkarnieren kann. Das Wort hinter dem Wort, meine Botschaft, die hinter dem Text sitzt, in möglichst großer Tiefe einzufangen, das ist das Bestreben dieser Arbeit.
Das ist ein sehr emotionaler Gehalt…
…dabei spielen Gefühle eine große Rolle. Die Vision „weiß“ ich nicht nur, ich spüre sie auch.
Worauf kommt es bei einem guten Text an?
Bei Sololiedern gelten andere Ansprüche als bei Strophen- und Gemeindeliedern. Bei letzteren muß der Text in allen Strophen auf ein und dieselbe Melodie singbar sein. Da müssen auch die Silbenbetonungen durchgängig gleich sein. Das ist das erste, und darauf kann man sich erfahrungsgemäß längst nicht immer verlassen.Auch wenn die „inklusive Sprache“ nicht benutzt worden ist, frage ich schon mal nach. Das handhabe ich inzwischen ziemlich konsequent, daß ich beispielsweise statt „Herr“ besser „Gott“ sage.
Die Dramaturgie des Textes muß stimmen. Daß die Bilder sinnvoll gesetzt und genutzt sind. Daß auch der Aufbau stimmig ist. Meine eigenen Texte reiche ich immer weiter, weil ein Korrektiv hilfreich ist. Die Arbeit im lebendigen Prozeß gefällt mir besser, darin bin ich in der Regel am kreativsten.
Ist es Ihnen passiert, daß Sie als paradigmatische Person gesehen werden ? In der Pop/Rockmusik ist es ein verbreitetes Phänomen, daß der „Kunde“ den „Performer“ idealisiert und auch auf den Prüfstand stellt.
Bewußt habe ich das so gut wie nie wahrgenommen. Natürlich kommt es manchmal zu sehr starken Orientierungen an mir, aber ich bin kein Typ, der darauf aus ist und muß halt damit rechnen. Mittlerweile singe ich nur das, was ich auch abdecken kann. Die theologischen Aussagen der Lieder sind auch Anfragen an mich selber und ich versuche, dabei ehrlich zu bleiben und das auch spürbar werden zu lassen. Es kommt auch darauf an, wie wir mit unserem Status umgehen. Ich muß ja keine Riesenfigur um mich herum aufbauen, dann habe ich das Problem der Idealisierung auch nicht in solchem Ausmaß. Wir begreifen uns am besten selber als „Beteiligte“ des Prozesses, nicht als seine Macher.
Es gibt ja eine Ablehnung der Idiome der Pop-/Rockmusik für die gottesdienstliche Verwendung, die begründet wird mit dem Argument, dies sei „unheilige“ Musik mit erotischen Konnotationen und säkularen Instrumenten..
Mit dieser Begründung hat man in Brasilien die Verwendung der Volksmusik untersagt. Die Flöte wurde verboten, weil sie ein Sexsymbol sei. Aber hier wäre zu fragen, wer die Kriterien des Erlaubten setzt. Das ist eine Frage der Macht! Die Orgel ist auch in dieser Hinsicht ein All-Machts-lnstrument! Die Popularmusik stellt ja eine Hinterfragung dieser Strukturen dar. Sie bietet zum Beispiel in der Regel nicht solistische Instrumentalbegleitung wie die Orgel das tut, sondern Zusammenklang mehrerer und verschiedener Instrumente, dahinter steckt ja auch eine theologische Komponente…
Was aber ist das „Heilige“, das manche hier bedroht sehen?
Auch da müssen wir unterschiedliche Vorstellungen integrieren. Ein Beispiel: Für mich persönlich ist der Altarbereich ein Bereich wie jeder andere. Ich habe in meiner Zeit als Gemeindepfarrer immer versucht, eine runde Form herzustellen, die mich nicht von den Leuten trennt; ich habe auch immer viel frei gesprochen. Für mich war klar, daß wir Gott in unserer Mitte feiern. In dieser Begegnung findet das Heilige statt. Ich muß aber akzeptieren, daß andere eine Ehrfurcht vor dem Altarbereich haben und in seine Richtung hin beten. Ich frage mich dann, ob man Gott an so einen Ort binden kann. Ich habe da eine andere Auffassung vom Heiligen. Man kann darüber ins Gespräch kommen, und das hat mehr mit Heimatgefühl zu tun, als viele wahrhaben können. Mit Theologie allein kommt man da oft nicht weiter. Die theologischen Gründe sind oftmals unbewußt vorgeschoben.
Ich möchte den Menschen zeigen, daß wir mit unserer christlichen Weltsicht den Menschen Lebensqualität zu bieten haben. Das Heilige ist, daß wir einen Gott haben, der uns das Leben schenkt und ermöglicht und daß wir eine Zukunft haben, die uns in seiner Liebe gehalten weiß. Das versuche ich zu übersetzen, und das ist mir heilig. Das ist auch das Kriterium für meine Arbeit als Texter und Komponist. Ich versuche, solche Beheimatung und Liebe in Lieder zu übersetzen. Heilige Kirchenmusik wäre eine Musik, die von dieser Sache etwas spürbar werden läßt, die dieser Sache dient – oder mit anderen Worten, die etwas davon inkarniert! Bach hat das geschafft. Die Leute sind froher nach Hause gegangen. Dieses Heilige wird auch durch das Neue Geistliche Lied gar nicht bedroht, sondern für viele Menschen eher gefördert.
aus:
Peter Hahnen, Das „Neue Geistliche Lied“ als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität, Münster 1997, S.368ff.
Die Promotion von Peter Hahnen, in der Sie auch das komplette Gespräch finden, ist mittlerweile abgeschlossen. Nähere Informationen dazu können Sie direkt bei ihm unter Peter-Hahnen@t-online.de erhalten
- Das „Neue Geistliche Lied‘ als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität“
Lit-Verlag Münster 1998
485 Seiten, broschiert/Fadenheftung, 49,80 DM
ISBN 3-8258-3679-7